Verbale und psychische Gewalt

Wenn jemand Dir sagt: "Du bist zu empfindlich!" dann ist das eine verbale Mißhandlung (nach Patricia Evans)

 

Verbale Misshandlung ist ein Mittel der Kontrolle und Dominanz, sie wird von Frauen und Männern ausgeübt, in Partnerschaften, gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen, auf dem Schulhof und unter Kollegen. Verbale Gewalt bedeutet, dass Interessen, Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle seines Gegenübers abwertet, umgedeutet und negiert werden. Das Ergebnis ist Verunsicherung und Hilflosigkeit auf der Opferseite, Kontrolle und Macht auf Seiten des Täters. Für das Opfer ist dies mit einem Gefühl der Ohnmacht und Isolation verbunden. Lange wird ihm gar nicht bewusst, dass es unter den Folgen psychischer Mißhandlung leidet. Vielmehr bleiben die meisten Opfer mit einem Gefühl von Scham und Ohnmacht zurück, beginnen an ihrem Verstand zu zweifeln, fühlen sich unzulänglich und inadäquat. Viele werden krank, körperlich und psychisch.

Das Opfer nimmt zunächst eine Traurigkeit darüber wahr, dass es keine Resonanz und kein Verständnis für seine Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen oder Interessen findet. Es fragt sich, ob es die Dinge "richtig" sieht, ob der Täter dies mit Absicht gemacht hat, grübelt über das "Warum" (passiert das immer mir?) und fragt sich, ob sein Gegenüber vielleicht nicht anders kann. All diese Fragen führen weg vom eigentlichen Problem: Der Realität der Verletzung, dem Schmerz, dem Erleben von Ohnmacht und Scham, der Notwendigkeit, die eigenen Grenzen zu definieren und von der Tatsache, dass psychische Gewalt dazu dient, Macht auszuüben.

Verbale Misshandlung verhindert Beziehung. Da das Resultat Macht und Kontrolle ist, sind wechselseitige Anerkennung, Vertrauen und Intimität ausgeschlossen. Das ist offensichtlich, aber oft leben die Opfer von psychischer Misshandlung in der Illusion einer echten Partnerschaft, Freundschaft und Beziehung. Dies bezeichnet man als Phantasie-Bindung. Diese besteht im Wesentlichen darin, dass das Opfer die eigenen Motive und Wünsche an die Beziehung auch dem misshandelnden Gegenüber unterstellt. Es „repariert“ gewissermaßen die Beziehungsrealität mittels einer Phantasie, um so die Illusion eines guten und fürsorglichen, liebenden oder fairen Gegenübers zu erhalten und darüberhinaus das Gefühl zu haben: Wenn ich mich an die Regeln halte, Wünsche erfülle, wenn ich kompromißbereit bin und mir Mühe gebe, dann wird alles wieder gut.  Zudem wird die Bindung des Opfers paradoxerweise durch die oft unvorhersehbare, keiner Regel folgenden Misshandlung verstärkt (erlernte Hilflosigkeit/Trauma-Bindung/unregelmäßige Konditionierung).

Die Gründe dafür, dass misshandelndes Verhalten oft so schwer zu erkennen ist sind vielfältig. Beispielsweise könnte der/die Misshandlerin ein sozial anerkannter und in seinen Rollen und Bezügen außerhalb der Beziehung sehr erfolgreicher Mensch sein. Vielfach wird er oder sie von Außenstehenden als sehr umgänglich und hilfsbereit erlebt.

Die Täter nehmen ihre Gefühle undifferenziert und meist als Ärger und Wut wahr. Unsicherheit und Angst werden zu Wut, das Gegenüber zur Projektionsfläche. Gefühle zu haben ist menschlich. Misshandler jedoch sind nicht bereit ihre Gefühle zu akzeptieren, die Verantwortung für sie zu übernehmen und ihrem Partner und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Sie neigen dazu, eine Mauer zwischen sich und Anderen zu errichten und sie zur Projektionsfläche ihrer Wut zu machen. Sie legitimieren dies durch die Behauptung, sie würden ja nur auf Angriffe oder Provokationen reagieren. Und sie machen ihr Gegenüber verantwortlich für ihr eigenes Glück/Unglück.

Patricia Evans, eine amerikanischen Therapeutin, die den Begriff der verbalen Misshandlung geprägt hat, betont, dass im Umgang mit verbaler Mißhandlung und psychischer Gewalt Prioriät hat:

1. Verbale Misshandlung als solche zu erkennen

2. Sie zurückzuweisen und zu stoppen und

3. zu einem Abkommen zu kommen, das weitere Misshandlungen ausschließt.

Vor diesem Hintergrund ist es die Entscheidung des Täters, ob er/sie sich weiter missbräuchlich verhalten will.

Das heißt:

1. dass der/die Täter die Wahl hat, ob er/sie weiterhin verletzen will,

2. dass er/sie sich bewußt machen muss, dass sein Verhalten einem Kontrollbedürfnis entspringt und schlimme Folgen für sein Opfer hat,

3. dass nur er/sie das missbräuchliche Verhalten stoppen kann.

Es ist nicht Aufgabe des Opfers, sein Gegenüber zu therapieren und es liegt nicht in der Macht des Opfers, durch sein Verhalten die Misshandlung zu beenden.

Es ist erwiesen, dass eine wie auch immer geartete Anpassung des Opfers die Dynamik der Misshandlung verschlimmert.

Patricia Evans beschreibt in ihrem Buch The Verbale Abusive Relationship (Deutsch: Worte, die wie Schläge sind) eine Reihe von Formen verbaler Misshandlung. Es müssen nicht alle Formen vorkommen und die Mißhandlung/Aggression kann offen oder verdeckt erfolgen. Einige Formen sind offensichtlich, andere subtilerer Art:

1. Vorenthalten, Enthaltung, Entzug

Vorenthalten von Informationen und Weigerung Gedanken und Gefühle zu teilen. Eine Person, die Informationen und den Austausch über Gefühle und Gedanken verweigert, macht eine gesunde Beziehung unmöglich. Austausch bezieht sich in einer solchen dysfunktionalen Beziehung auf reine Fakten oder Informationen, die so unpersönlich sind, dass man sie auf Facebook posten oder selbst darauf kommen könnte. Beispiele solcher, den Partner ausschließenden Informationen, sind: „Das Fußballspiel beginnt um 20 Uhr“, „Der Schlüssel liegt auf dem Tisch“, „Ich arbeite viel“. Beschwert sich das Opfer, so bekommt es oft zu hören, dass es übermaßig kontrollierend, neugierig...sei.

2. Negieren, Bestreiten, Dagegen halten

Den Partner in Diskussionen verwickeln, bestreiten, verneinen – nicht nur in politischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Debatten, sondern in fast allen Bereichen und Kontexten. Wenn die Partnerin beispielsweise von ihren positiven Gefühlen über einen Film, den sie gerade gesehen hat, mitteilt, beginnt der Misshandler dagegen zu argumentieren und sie zu überzeugen, dass ihre Gefühle falsch sind. Es geht also darum, die Gefühle, Gedanken und Erfahrungen des Opfers gewohnheitsmäßig zu bestreiten, zu entwerten und als falsch, unrealistisch und unangemessen zu negieren.

3. Abwerten

Abwertung bezeichnet den Versuch, dem Opfer das Recht auf eigene Gefühle, Gedanken und Erfahrungen zu abzusprechen. Oft äußert sich dies als Kritik einer besonderen Art: Der/die Täterin sagt seinem Opfer beispielsweise gewohnheitsmäßig, es sei zu empfindlich, naiv, kindisch, habe keinen Sinn für Humor, verstehe seinen/ihren Humor nicht oder dramatisiere Kleinigkeiten. Die subjektive Realität des Opfers wird negiert, bestritten und seine Wahrnehmungen werden als falsch diffamiert.

4. Verbale Misshandlung als Witz getarnt

Der/die Täterin sagt verletzende Dinge und wenn das Opfer darauf gekränkt reagiert, behauptet er/sie, nur einen Witz gemacht zu haben.  Verbale Gewalt ist nicht tolerierbar; Witze die verletzen, sind Ausdruck verbaler Misshandlung!

5. Abblocken und Umleiten

Auf diese Weise dominiert der Misshandler sein Gegenüber indem er/sie darüber entscheidet, welche Themen, Beobachtungen, Gefühle angesprochen werden dürfen und welche nicht. Er/Sie entscheidet, was real oder ein mögliches Thema des Gesprächs sein kann. Er/Sie sagt dem Partner beispielsweise, dass er/sie über unangemessene Dinge spricht oder sich zu oft beschwert, Kleinigkeiten aufbläst, zu fordernd ist.

6. Beschuldigen und Anklagen

Das Opfer wird für Dinge verantwortlich gemacht und beschuldigt, die außerhalb seines Einflusses liegen Das Opfer wird also für Dinge angeklagt, die es nicht kontrollieren kann: Beispiel: Sie hindere sein berufliches Vorwärtskommen, weil sie zu dick sei; er blamiere sie und schade ihrem sozialen Ansehen, weil er kein Abitur habe…

7. Beurteilen, Definieren und Kritisieren

Eigentlich dasselbe wie Beschuldigen und Anklagen, allerdings mit einer negative Bewertung des Opfers. Evans betont, dass die meisten „Du…“-Aussagen verurteilend, kritisch und übergriffig sind.  . Beispiele: Du bist nie zufrieden, Keiner mag dich, weil du so negativ bist. … Hier werden dem Opfer Motive und Gedanken, Eigenschaften und Urteile übergestülpt. Es wird definiert, wie Evans sagt. Dabei kann niemand unsere Gedanken lesen, uns sagen wie und wer wir sind oder auch nur beurteilen, was uns motiviert.

8. Trivialisierung

Dinge, die das Opfer tut oder möchte, werden für unwichtig, überflüssig oder minderwertig erklärt. Der Misshandler  äußert sich abwertend, kritisch und abschätzig über die Arbeit, den Kleidungsstil, die Essensgewohnheiten, die Interessen, Ideen und Vorlieben des Opfers.

9. Unterminieren – Untergraben

Das Untergraben ähnelt dem Trivialisieren und beschreibt eine permanente Abwertung oder Geringschätzung dessen was das Opfer vorschlägt oder äußert. Dies führt dazu, dass das Opfer sich selbst, seine Meinungen und Interessen infrage stellt. Dies führt zu einem Anzweifeln der eigenen Wertigkeit, der Angemessenheit der eigenen Gedanken, Gefühle und Einschätzungen bzw. der eigenen Wahrnehmung.

10. Bedrohen

Das Bedrohen ist eine sehr verbreitete Form der verbalen Misshandlung und kann explizite oder auch sehr subtile Formen annehmen. Beispielsweise explizit: „Wenn Du nicht dieses oder jenes tust, dann verlasse ich dich“ oder mehr subtil: „Wenn du nicht meinem Rat folgst, werden andere dich verurteilen“.

11. Beschimpfungen

Beschimpfungen können explizit oder subtil sein. Explizit, wenn das Opfer beleidigt und offen mit Schimpfworten belegt wird. Implizite Beleidigungen können sich so anhören: „Du hältst dich für superschlau, oder ?“, „Du bist so ein armes Opfer“.

12. Vergessen

Hier geht es um ein Spektrum von Verhaltensweisen, das vom Vergessen eines Versprechens bis zum Vergessen einer Verabredung reicht. Manche Misshandle/innen vergessen ständig vermeintliche Kleinigkeiten, wie Besorgungen oder Dinge, die ihnen mitgeteilt wurden. Entscheidend ist hierbei, dass sie nicht mal den Versuch machen, sich zu erinnern. Ein solches Verhalten wird als passiv-aggressiv oder auch verborgene Aggression bezeichnet.

13. Befehlen, Fordern

Jede Form des Befehlens oder Forderns ist verbale Misshandlung, denn es fällt unter die Kategorie des kontrollierenden Verhaltens.

14. Leugnung

Leugnung ist Misshandlung, wenn jemand permanent sein schlechtes Benehmen verleugnet oder die Folgen seines Verhaltens nicht realisiert. Ein Misshandler wird immer einen Weg finden sein verletzendes Verhalten zu rationalisieren, zu entschuldigen und zu bagatellisieren. Denn es geht darum, zu leugnen irgendetwas falsch gemacht zu haben.

15. Wutanfälle, Brüllen, Anschreien

Jede Form von Anschreien, besonders wenn es überraschend und unvorhersehbar geschieht. Solche Ausbrüche schüchtern das Gegenüber ein und hindern es daran, seinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Niemand verdient es, angebrüllt zu werden.

16. Verdeckte Beleidigungen

“Mein süßes Dummerchen”, “Mein dicker, kleiner Schatz“ – hier werden Abwertungen in vermeintliche Zärtlichkeiten gekleidet. Das Opfer kann sich nur schlecht wehren, die Beleidigung wird geleugnet, dem Opfer oft unterstellt, „zu empfindlich“ zu sein.

17. Lächerlich machen oder Herabwürdigen vor Anderen

Es ist eine Form der Misshandlung, wenn eine Person vor Dritten lächerlich gemacht oder heruntergeputzt wird.

18. Lügen und Täuschen

Opfer berichten, dass ihre Misshandler sie jahrelang belogen haben. Es ist wichtig zu verstehen, dass Lügen, Verschleiern und Vernebeln der Verwirrung und Verunsicherung des Opfers dient. Das Opfer verliert das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und wird immer abhängiger von Bestätigung durch den Mißhandler.

Die meisten Opfer verbaler und psychischer Gewalt sind verunsichert. Ihre Gedanken kreisen um die Frage, warum man ihnen das antut, ob ihre Wahrnehmung angemessen ist, ob sie vielleicht gar selber Täter sind und so diese Form der Misshandlung provozieren. Viele neigen dazu, ihrem Partner unbewusste Motive zu unterstellen oder sein Verhalten zu entschuldigen: „Der meint es nicht so“, „Sie macht macht das unbewußt“.

Das ist meist nicht hilfreich. Ein Partner, Kollege, Elternteil oder Chef, der verletzt, brüllt, befiehlt, beschuldigt, unterminiert und abwertet, hat immer die Möglichkeit seinem Gegenüber zuzuhören und sein Verhalten zu ändern. Er/Sie kann sich Hilfe für seine persönlichen Probleme suchen. Dass er/sie Hilfe braucht, sein Verhalten verändern muss, kann er/sie aber nur realisieren, wenn er/sie Verantwortung übernimmt.

Aller Erfahrung nach sind weder Entschuldigungen noch Versuche „nicht zu provozieren“ zielführend, im Gegenteil, die Frequenz und Intensität der Misshandlungen erhöht sich. In einer gesunden Beziehung findet Mann/Frau Gehör, wenn er/sie sich verletzt fühlt. In einer gesunden Partnerschaft herrscht Gleichwertigkeit und es gibt klare Grenzen: Jeder spricht für sich und zeigt Respekt für sein Gegenüber.

Im Zusammenhang mit Mißhandlungsbeziehung taucht óft der Begriff der Co-Äbhänigkeit auf. Natürlich gibt es Menschen, die an einer unbewußten "Sucht, gebraucht zu werden" leiden, wichtig ist jedoch, den Mißbrauch zu erkennen und ihm Einhalt zu gebieten, ohne Opfer-Kritik zu betreiben. Jeder/Jede kann Opfer von Gewalt werden, ganz gleich wie gebildet, erfolgreich, attraktiv oder selbstbewußt er/sie ist.

Literatur:

Patricia Evans:"Worte, die wie Schläge sind" im Original "Verbal Abuse: Survivors speak out"

Susan Forward: Emotionale Erpressung

John Bradshaw: "Wenn Scham krank macht: Verstehen und überwinden von Schamgefühlen"

Marie-France Hirigoyen: "Die Masken der Niedertracht"

Shahida Arabi: "Power"

Shahida Arabi: "Becoming the Narcissit´s Nightmare"

Henry Cloud et. alt. "Boundaries"

 

Alice Miller: "Dein gerettetes Leben" und "Das Drama des begabten Kindes"

 

 

 

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